Türkei : Selbstverteidigung oder Angriffskrieg ?

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  • Türkei : Selbstverteidigung oder Angriffskrieg ?


    Der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), spricht im Interview über die türkische Offensive auf die syrische Region Afrin und die deutsch-türkischen Beziehungen nach der Freilassung von Deniz Yücel.


    WELT AM SONNTAG: Herr Roth, in Syrien eskaliert die Lage gefährlich. Fühlte sich die Bundesregierung verpflichtet, dem Nato-Partner Türkei nach Artikel fünf des Nato-Vertrages beizustehen, sollten türkische Truppen von syrischen angegriffen werden?


    Michael Roth: Die Bundesregierung hat Verständnis für die Sicherheitsinteressen der Türkei. Es ist ja dort in der Vergangenheit immer wieder zu Anschlägen und auch Angriffen auf das türkische Grenzgebiet gekommen. Die Türkei ist wie kein anderes Nato-Land von den Auswirkungen des verheerenden Konflikts in Syrien betroffen. Insofern kann ich nachvollziehen, dass der türkische Staat seine Bürger schützen möchte. Dabei ist klar, dass die Kriterien der Verhältnismäßigkeit, der Notwendigkeit und der Menschlichkeit eingehalten werden müssen. Die Gefahr einer weiteren Eskalation in diesem geschundenen Land ist groß.


    WELT AM SONNTAG: Gibt es nun eine Beistandsverpflichtung der Nato-Verbündeten für die Türkei in Syrien oder nicht?


    Roth: Es gibt in dieser Frage keinen Automatismus. Ich will darüber auch nicht spekulieren.


    WELT AM SONNTAG: Handelt es sich bei der Offensive auf die syrische Region Afrin denn um Selbstverteidigung? Könnte man nicht sogar von einem Angriffskrieg der Türkei sprechen?


    Roth: Die Kampfhandlungen in der Region müssen sofort eingestellt werden, im Übrigen in ganz Syrien. Und wir brauchen den unverzüglichen humanitären Zugang zu allen Menschen, die furchtbares Leid zu ertragen haben. Aus unserer Sicht ist der Kampf gegen die Terrororganisation IS prioritär. Und je länger der Einsatz andauert, desto lauter und drängender wird auch die Frage zu stellen sein: Deckt sich der türkische Einsatz noch mit Ankaras Rechtfertigung, das Land verteidige sich gegen Angriffe? Die territoriale Integrität Syriens muss erhalten werden. Das Land muss multiethnisch und multireligiös bleiben. Und wir brauchen endlich einen politischen Prozess, der alle Bevölkerungsteile einbezieht.


    WELT AM SONNTAG: Halten Sie persönlich den türkischen Einmarsch nach Syrien für geboten?


    Roth: Ich mache mir bei allem Verständnis für Sicherheitsinteressen große Sorgen. Die Zivilbevölkerung muss geschützt und der humanitäre Zugang zu belagerten Städten und Dörfern garantiert werden. Wir fordern die Türkei auf, ihren Einsatz zu beenden, da er die ohnehin dramatische Lage in Syrien nur noch weiter kompliziert.


    WELT AM SONNTAG: Jüngst kam es auch zu Spannungen zwischen Türken und Amerikanern. Wer ist für diesen Konflikt verantwortlich?


    Roth: Auf syrischem Staatsgebiet tobt doch längst der Kampf um die Nachkriegsordnung. Dabei sind Syrien, Russland, der Iran, die Türkei und die USA die zentralen Akteure. Die EU und auch Deutschland spielen da keine Rolle. Aber wir nehmen Geflüchtete auf und leisten humanitäre Hilfe, allein Deutschland seit 2012 über 2,2 Milliarden Euro. So traurig sich das auch anhören mag: Aber nach einem Ende der Kampfhandlungen dürften wir um Unterstützung gebeten werden, das in Schutt und Trümmern liegende Land wiederaufzubauen. Bedingung für ein solches Engagement der EU und unsererseits ist aber ein glaubwürdiger politischer Übergang in Syrien.


    WELT AM SONNTAG: Fühlt sich Erdogan eigentlich noch dem westlichen Verteidigungsbündnis zugehörig – obwohl er russische Waffensysteme kauft?


    Roth: Wir haben ein Interesse daran, dass sich die Türkei weiterhin zur Nato bekennt. Die Nato ist im Übrigen ja nicht nur ein Verteidigungs-, sondern auch ein Wertebündnis. Aus der Mitte der Nato heraus gibt es sehr klare Erwartungen, dass Ankara sich diesen beiden Säulen der Nato gleichermaßen verpflichtet fühlt.


    WELT AM SONNTAG: Die Türkei ist einer der ältesten deutschen Verbündeten. Wie viel Gewicht hat dieser Umstand eigentlich noch in den deutsch-türkischen Beziehungen?


    Roth: Die enge deutsch-türkische Partnerschaft reicht weit zurück. Die Geschichte dieser Beziehungen mit ihren Höhe- und Tiefpunkten verpflichtet uns, in langen Linien zu denken. Ich werbe für möglichst verlässliche deutsch-türkische Beziehungen. Aber konfliktreiche Themen dürfen dabei eben auch nicht ausgespart werden.


    WELT AM SONNTAG: Der WELT-Korrespondent Deniz Yücel ist nach einjähriger Untersuchungshaft ohne Anklageschrift (wurde am 15.2. vorgelegt) freigelassen worden. Ist die Bundesregierung Ankara nun zu anhaltender Dankbarkeit verpflichtet?


    Roth: Wir wollen wieder zu einem vernünftigen Miteinander kommen. Für uns zählen Taten. Noch immer sind vier deutsche Staatsbürger aus politischen Gründen in türkischer Haft. In der Türkei erleben wir eine erhebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Unabhängigkeit der Presse und der Justiz. Die kritischen Teile der Zivilgesellschaft sind stark in ihren Freiräumen eingeschränkt. Es gibt erheblichen Reformbedarf. Davor dürfen wir doch nicht die Augen verschließen.


    WELT AM SONNTAG: Ist der mögliche Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen überhaupt noch eine Drohung für die Türkei, die in Ankara Wirkung zeigt?


    Roth: Faktisch liegen die Verhandlungen ja derzeit auf Eis. Von einem Abbruch habe ich noch nie etwas gehalten. Wer dies wünscht und meint, damit die türkische Regierung bestrafen zu können, trifft vor allem die Zivilgesellschaft, die ihren Blick nach wie vor nach Europa richtet. Wir würden damit die prowestlichen Kräfte in der Türkei zutiefst enttäuschen. Mir liegen die jungen Leute am Herzen, die die Hoffnung auf eine europäische Türkei noch nicht aufgegeben haben.


    WELT AM SONNTAG: Wie wollen Sie den Druck auf Ankara also aufrechterhalten, um die in der Türkei inhaftierten Deutschen freizubekommen?


    Roth: Um etwas zu erreichen, müssen wir miteinander im Gespräch bleiben, aber unsere Positionen wie bisher unmissverständlich artikulieren. Als türkische Politiker die Bundesregierung mit dem Nazi-Regime gleichgesetzt haben, haben wir hart und klar reagiert. Dieser Vorwurf war vollkommen inakzeptabel – und das haben wir der Türkei auch sehr deutlich gemacht.


    WELT AM SONNTAG: Haben Sie den Eindruck, dass Ankara davon nachhaltig beeindruckt war?


    Roth: Wenn wir nur noch übereinander und nicht mehr miteinander sprechen, passiert gar nichts. Der Fall Deniz Yücel hat doch gezeigt, dass beharrliche Gespräche gepaart mit entsprechenden Maßnahmen – also letztlich entschlossene Diplomatie – positive Ergebnisse bringen.


    WELT AM SONNTAG: Am Abend der Freilassung von Deniz Yücel hat das türkische Verteidigungsministerium von einem Telefonat mit Ursula von der Leyen berichtet, in dem es um Rüstungsgeschäfte gegangen sein soll. Ist das der Preis für die Freilassung?


    Roth: Zu einem Telefonat zwischen den Verteidigungsministern kann ich nichts sagen. Ich weiß nur eines: Die geschäftsführende Bundesregierung ist zu Recht sehr zurückhaltend, was weitere Rüstungskooperationen mit der Türkei angeht. Ich gehe fest davon aus, dass auch die nächste Bundesregierung die bisherige, sehr restriktive Praxis fortsetzen wird.


    WELT AM SONNTAG: Wohin steuert die Türkei Ihrer Meinung nach?


    Roth: In den vergangenen Jahren hat sich die Türkei immer weiter von der EU und ihren Werten entfernt. Wie es weitergeht, hängt maßgeblich vom Ergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2019 ab. Die türkische Wirtschaft ist unter Druck, denn in dieser unsicheren politischen Lage bleiben sowohl die Investoren als auch die Touristen aus. Die Kritik an Erdogan nicht nur aus Kreisen der türkischen Wirtschaft wird daher lauter, insbesondere an der Fortgeltung des Notstandsrechts.


    WELT AM SONNTAG: Die jüngste Annäherung ging von Ankara aus. Hat Erdogan sich schlicht mit zu vielen Partnern und Nachbarn gleichzeitig angelegt?


    Roth: Derzeit ist die Türkei politisch weitgehend isoliert. Die Differenzen mit vielen Staaten, allen voran mit den USA, könnten für Präsident Erdogan dauerhaft zum Problem werden. Gerade an guten Beziehungen mit der EU hat die Türkei ein großes Interesse, denn wir sind nicht nur politisch eng verbunden, sondern auch wirtschaftlich und kulturell. Beides kann die Türkei auch nicht durch eine Annäherung etwa an Russland kompensieren.


    WELT AM SONNTAG: Sie setzen Ihre Hoffnungen auf eine prowestliche, kemalistisch geprägte Elite in der Türkei. Doch diese Kräfte werden derzeit aus Institutionen wie dem Militär oder der Justiz entfernt. Was also bleibt von der Westorientierung der Türkei, wenn Erdogan und die türkischen Gerichte fertig sind?


    Roth: Es stimmt, die prowestlichen Kräfte in der Türkei haben an Einfluss verloren. Und bestimmte Reformprozesse, die Herr Erdogan selbst als Ministerpräsident angeschoben hat, wie etwa die Aussöhnung mit den Kurden, sind heute nichts mehr wert. Trotzdem dürfen wir das Gespräch mit Ankara nicht abreißen lassen – gerade weil wir nur so über schwierige Themen reden können, etwa über Menschenrechte und die Pressefreiheit. Dabei werden wir nicht immer gleich auf offene Ohren stoßen. Aber ich fühle mich diesem Dialog verpflichtet. Das sind wir nicht zuletzt den drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln schuldig, die in unserem Land leben, uns bereichern und zu uns gehören.

  • Als die Türkei mit Panzern und Artillerie in Myanmar einmarschiert sind und die Burmesische Armee und Polizei unter Beschuss genommen haben, nur weil sich die Burmesische Regierung weigerte die Rohingya Muslime in ihrem Land aufzunehmen, gab es komischerweise nicht so ein Interview in der Welt am Sonntag und es hat sich auch niemand gefragt ob das jetzt ein Angriffkrieg ist, oder doch nur religiöse Selbstverteidigung...

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