Wer auffährt hat immer Schuld und der Warnblinker entschuldigt Falschparken. Autofahrer gehen von vielen Regeln aus, die sich in deutschen Gesetzbüchern nicht wiederfinden.
Verkehrte Welt: Die Lichthupe ist beim Überholen auf der Autobahn erlaubt, der Warnblinker beim kurzen Zwischenstopp auf dem Gehweg verboten. Was im ersten Moment abwegig klingt, ist juristisch vollkommen korrekt. Über die Jahre haben sich im kollektiven Gedächtnis von Autofahrern zahlreiche Halbwahrheiten eingeprägt, die zwar meist einen wahren Kern haben, jedoch trotzdem nicht wirklich stimmen. Wer beispielweise einem anderen Verkehrsteilnehmer von hinten auffährt, hat zwar dem Volksmund nach immer Schuld, doch vor Gericht gilt dieser Spruch noch lange nicht.
Der Jurist Ralf Höcker hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit juristischen Ammenmärchen aufzuräumen. In Büchern wie dem „Lexikon der Rechtsirrtümer“, das im Ullstein-Verlag erschienen ist, widerlegt er zahlreiche Volksmythen, die sich hartnäckig in den Köpfen der Deutschen halten. Wie beispielsweise der Trugschluss, dass nur Trunkenheit am Steuer den Führerschein kosten kann, oder dass Fußgänger Parklücken freihalten dürfen. „All diese Irrtümer haben eines gemeinsam: Sie verbreiten und verstärken sich, indem sie tagtäglich nachgeplappert werden“, meint Höcker. Ersichtlich wird dies am Beispiel des Schilds „Hier gilt die StVO“, das oft auf Firmenparkplätzen zu finden ist. Da es überall angebracht ist, muss es ja stimmen. Warum dieser Gedanke ein Trugschluss ist, zeigen die folgenden Beispiele von populären Rechtsirrtümern im Straßenverkehr.
Mythos 1: Autobahnauffahrten heben Tempolimits auf
Eine dreispurige Autobahn mit Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 Stundenkilometer. Nach 10 Kilometern gedrosselter Fahrt endlich die vermeintliche Rettung: Eine Zuliefererstraße mündet in die Autobahn, das Tempolimit wird nach der Einmündung nicht wiederholt. Für viele Autofahrer eine Lizenz zum Gas geben. Der beliebte Irrtum: Wenn eine Geschwindigkeitsbegrenzung nach einer Einmündung nicht durch ein weiteres Verkehrsschild wiederholt wird, gilt sie nicht mehr.
Der Irrtum kann Autofahrer teuer zu stehen kommen, wenn just nach der Einmündung ein Blitzer steht. Besonders ärgerlich ist das für jene Autofahrer, die von der Einmündung auf die Autobahn abbiegen: Denn auch sie müssen sich an das Tempolimit halten – obwohl sie mangels Beschilderung gar nicht wissen können, das eine Begrenzung besteht. „Ob in einem solchen Fall eine Geldbuße auferlegt wird, ist eine andere Frage“, meint Ralf Höcker.
Die drei echten Möglichkeiten
Der Jurist erklärt, dass es lediglich drei Möglichkeiten gibt, eine Geschwindigkeitsbegrenzung aufzuheben. Einmündungen gehören definitiv nicht dazu: Die bekannteste Variante ist die durchgestrichene Geschwindigkeit auf einem Verkehrsschild, die eindeutig das Ende einer Strecke anzeigt, auf der nur 120 Kilometer pro Stunde erlaubt sind. Zweite Variante ist ein Tempolimit, das nur für eine bestimmte Strecke gilt. In diesen Fällen steht auf dem Verkehrsschild neben der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auch, wie lang diese gilt – beispielsweise fünf Kilometer. Nach diesen Fünf Kilometern muss das Tempolimit dann nicht mehr beachtet werden. Ähnlich bei der dritten Variante, die oft bei Baustellen eingesetzt wird. Autofahrer sollen innerhalb der Baustelle lediglich 60 Kilometer pro Stunde fahren, doch nach dieser Gefahrenstelle erübrigt sich die Geschwindigkeitsbegrenzung und besteht dann nicht mehr.
Mythos 2: Die Lichthupe zu benutzen ist Nötigung
Tatort Überholspur. Von hinten kommt eine PS-starke Karosse angeschossen, vorn zuckelt eher gemütlich ein Kleinwagen vor sich hin. Der Fahrer des schnelleren Fahrzeuges betätigt die Lichthupe. Einmal, zwei Mal. Er will möglichst schnell überholen. Für viele Autofahrer liegt der Fall auf der Hand: Nötigung durch das wiederholte Auslösen der Lichthupe. Für Ralf Höcker ein Irrtum, der auf lückenhaftem verkehrsstrafrechtlichem Hintergrundwissen beruht.
Drängeln ist Nötigung – mit und ohne Lichthupe
Richtig ist: Drängeln auf der Autobahn wird als Nötigung bestraft. Doch langsamere Autos per Lichthupe von der linken Spur zu blinken, zählt nicht dazu. Im Gegenteil: „Es ist sogar eine wesentliche Aufgabe von Hupe und Lichthupe, Überholabsichten anzukündigen“, erklärt Jurist Höcker. Gesetzlich ist es laut §5 Absatz 5 der Straßenverkehrsordnung ausdrücklich gestattet, „das Überholen durch kurze Schall- oder Leuchtzeichen“ anzuzeigen. Das gilt laut §16 Absatz 1 StVO allerdings nur außerhalb von Ortschaften. Wer also kurz und stoßweise auf der Überholspur einer Autobahn die Lichthupe gibt, oder sogar hupt, begeht keineswegs Nötigung. Wer dabei zu dicht auffährt schon. Ohnehin ist der Übergang zur Straftat durchaus fließend. Zu häufiges Hupen oder zu lange Lichtsignale gehen deutlich über das rechtlich erlaubte Maß hinaus. „In besonders extremen Fällen kann der grundsätzlich erlaubte Gebrauch der Warninstrumente dann auch als Nötigung bestraft werden“, sagt Höcker.
Gesetzestexte hierzu: §5 Absatz 5 StVO „Überholen“ §16 Absatz 1 StVO „Warnzeichen“ §240 StGB „Nötigung“
Mythos 3: Nur wer betrunken Auto fährt verliert den Führerschein
Betrunken Autofahren? Niemals. Denn wohl jeder Autofahrer weiß, dass ab 1,6 Promille am Steuer der Führerscheinentzug und die Medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) – auch bekannt als Idiotentest – droht. Weniger bekannt: Auch 1,6 Promille beim Fahrradfahren kosten den Führerschein. Wer dermaßen alkoholisiert auf dem Drahtesel erwischt wird, kann von der Führerscheinstelle – soweit eine Fahrerlaubnis vorliegt – ebenfalls zur MPU verdonnert werden. Das wäre noch einsehbar, da eben auch ein Fahrradfahrer ein Vehikel lenkt, das am Straßenverkehr beteiligt ist.
Auch Fußgänger können Führerschein riskieren
Doch selbst sturzbetrunkene Fußgänger laufen Gefahr, ihren Führerschein zu verlieren. Das zeigt ein Fall, den Jurist Ralf Höcker zitiert: Ein Taxifahrer war in 33 Jahren Dienstzeit nicht ein einziges Mal wegen Alkohol aufgefallen. 1995 lief er jedoch sturzbetrunken zu einer Polizeiwache. Am Rosenmontag 2001 fand ihn die Polizei erneut betrunken vor – diesmal auf einem Bürgersteig liegend mit mehr als zwei Promille im Blut. Diese zwei Vorfälle reichten der Führerscheinstelle aus, um von dem Mann eine MPU einzufordern. Ralf Höcker mahnt deshalb: „Nur allzu leicht kann man sich mit einem derart „maßlosen“ Lebenswandel böse Konsequenzen einhandeln.“ Die Argumentation von Führerscheinstelle und von MPU-Prüfern ist in solchen Fällen immer dieselbe: Wer derartig viel Alkohol im Blut hat, trinkt regelmäßig und könnte deshalb auch im Straßenverkehr zu einer Gefahr für andere Autofahrer werden. Denn nur wer öfter Alkohol trinkt, erreicht überhaupt Werte jenseits der 1,6 Promille, ohne umzukippen.
Gesetzestexte hierzu: §2 Absatz 2 Nr. 3 StVG „Fahrerlaubnis und Führerschein“ §3 Absatz 1 FeV „Einschränkung und Entziehung der Fahrerlaubnis“
Mythos 4: Vor Engstellen muss man sich möglichst bald rechts einordnen
Ärgernis Autobahnbaustelle: Schon hunderte Meter vor der Fahrbahnverengung quetschen sich Autos auf die rechte Spur und schleichen langsam weiter. Auf der wegfallenden Spur dagegen herrscht gähnende Leere – bis ein vermeintlicher Rowdy an der schleichenden Autoschlange vorbeifährt und kurz vor der Baustelle wieder einfädeln will. Für viele Verkehrsteilnehmer ein Unding. Denn gemäß Ralf Höcker lautet der gemeinhin verbreitete Irrtum: „Wenn eine Fahrspur wegfällt, müssen sich alle Fahrzeuge so früh wie möglich auf den benachbarten Fahrstreifen einordnen.“
Reisverschluss statt Rechtsfahrgebot
Falsch. Schlange stehen ist zwar im Supermarkt Gang und Gäbe, auf der Autobahn gilt aber das Reißverschlussverfahren. Jedoch fahren nur vereinzelt einige Autos am Stau vorbei und ordnen sich vor der Baustelle auf die frei bleibende Fahrspur ein. „Doch genau diese Fahrer haben das Reißverschlussverfahren verstanden“, sagt Höcker. Der Gedanke hinter der Vorgehensweise: Je länger die wegfallende Fahrspur genutzt wird, desto wahrscheinlicher kann ein langer Stau vermieden werden. Wären da nicht die üblichen Verkehrserzieher, die sich beim Schlange stehen im Recht wähnen und kurz vor der Baustelle nochmals Gas geben, um anderen Verkehrsteilnehmern ein Einfädeln zu erschweren und wäre da nicht die ängstlichen Autofahrer, die schon lange vor dem Ende ihres Fahrstreifens stehen bleiben, um die Fahrbahn zu wechseln (und damit ihre komplette Spur zum Stillstand bringen). Ein klarer Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung. Denn der Paragraph zum Reißverschlussverfahren besagt eindeutig: Jedes Auto auf der rechten Spur muss eines von der linken einfädeln lassen, und zwar erst da, wo die Spur tatsächlich endet.
Gesetzestexte hierzu: §7 Absatz 4 StVO „Benutzung von Fahrstreifen durch Kraftfahrzeuge“