Die Grünen - glaubhafte Ökopartei oder Oberlehrer der Gesellschaft

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  • Oberlehrer reloaded
    Die neuen Grünen sehen plötzlich alt aus


    Die Grünen wollen die SPD beerben. Die Grünen wollen die neuen Liberalen sein. Angesichts der strukturellen Schwäche der Sozialdemokraten und der konjunkturellen der Freidemokraten wirkt dieser Anspruch plausibel. Und taktisch sinnvoll ist er ohnehin. Erst recht in einem Superwahljahr mit drei Landtagswahlen und einer Europawahl.
    Aber ist Grün tatsächlich schon die neue Mitte? Steckt hinter dem Slogan wirklich mehr als nur Polit-PR? Haben die Grünen wirklich schon ihre Wurzeln gekappt, ihre DNA verändert? Ist jetzt Schluss mit diesem oberlehrerhaften Sound, die Bürger im Auftrag eines angeblichen alternativlosen Ziels zu einer anderen Lebensführung zu erziehen?
    Die Grünen selbst lassen Zweifel daran aufkommen - und ringen mit sich selbst. Sie haben selbst erkannt, wie schwer es ist, sich neu zu erfinden, was nur funktioniert, wenn man gelernt hat, die eigene Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber wollen sie das überhaupt? Und können sie überhaupt liberal sein? Zweifel sind angebracht.
    Als der Parteivorsitzende Robert Habeck eine grüne Wählerstimme mit dem Versuch gleichsetzte, in Thüringen sozusagen die Demokratie einzuführen und dann aus Zerknirschung über den Rückfall ins Gestern und den Shitstorm das Trägermedium seiner Botschaft zum Unfallverursacher erklärte, hatte er ein treffliches Beispiel geliefert, wie schwer es ist, Anspruch und Wirklichkeit überein zu bringen. Das Gestern und das Heute. Die Toleranz mit der Besserwisserei. So etwas kostet Glaubwürdigkeit.


    Habeck blieb nicht der einzige auf Abwegen. Es gibt aktuell in Deutschland eine neue Debatte um den Diesel und den Feinstaub und die Glaubwürdigkeit von Umwelt-Grenzwerten, die, soviel lässt sich halbwegs unfallfrei sagen, vor allem politisch gewählt sind. Jetzt wäre die Stunde der Wissenschaft gekommen - um die Frage zu beantworten: Wie gefährlich ist Feinstaub, in welcher Konzentration? Und wo werden sinnvollerweise Mess-Mess-Stationen aufgebaut, um dann was schlüssig beweisen zu können? Das Neue ist die Infragestellung des Alten.
    Dass Neue ist, dass aus der Ärzteschaft selbst Zweifel kommen am Sinn einer Umweltpolitik, die für sich beansprucht, Menschen vor gesundheitlichem Schaden zu bewahren. Mit so etwas angemessen umzugehen, scheint eine schwierige Angelegenheit zu sein – umso schwieriger, je selbstgewisser man die alte These – der Verbraucher ist gewissenlos, die Industrie tötet, usw. – vertreten hat.



    Die alten Grünen, das sind jene, bei denen die Trennlinie zwischen Ökologie und Ökologismus fließend verläuft; jene, die ihren antifaschistischen Reflex bedenkenlos schon jenseits der eigenen Position wirksam werden lassen. Jene, die beides rhetorisch zu verbinden wissen. Michael Cramer, der für die Grünen seit 15 Jahren im Europa-Parlament sitzt, schleuderte den „Stickoxid-Ärzten“ im Radio dies entgegen: „Das man unterschiedliche Positionen hat, gehört dazu. Es gibt Leute, die leugnen den Klimawandel. Es gibt Leute, die leugnen den Holocaust. Es gibt Leute, die leugnen, dass Feinstaub und Feinstaubpartikel und CO2 und Stickoxide gesundheitsschädlich sind, das gehört dazu.“
    Zwei Tage und einen Shitstorm benötigte Cramer, um sich umfassend zu entschuldigen, stilistisch hatte es etwas von jener Zerknirschung und Seelenanalyse, die man schon bei Habeck studieren konnte. Im O-Ton: „Ich bedaure meine Aussage zutiefst, bitte dafür in aller Form um Entschuldigung und bin selbst enttäuscht von mir.“
    Grünen-Abgeordneter verortete Union und FDP auf "Reichsbürger-Niveau"
    Zu jenen, die in der Kunst selbstentblößender Entschuldigung noch nicht so weit sind wie Habeck und Cramer, gehört wohl der Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek, der auch nur einen einzigen Satz brauchte, um Anti-Faschismus und Klima-Gewissheit auf eine Formel zu bringen: „Um das mal klar zu sagen: Was Union und FDP zusammen mit ein paar verirrten Lungenärzten da in Sachen Umwelthilfe, Feinstaub, Stickoxide aufführen, hat Reichsbürger-Niveau. Eine Schande für die deutsche Politik ist das.“
    Wir können von hier aus nicht klären, inwieweit sich der Politologe Janecek toxikologisch wie epidemiologisch fortgebildet hat, aber politologisch können wir nachvollziehen, was er hier versucht: Nämlich in Zeiten wachsender Verunsicherung über angebliche ökologische Gewissheiten nicht auf Aufklärung, sondern Gegen-Aufklärung zu setzen. Den Debattenraum eng zu machen.
    In die Reihe passt die Fraktionsvorsitzende der Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag, Monika Düker, im Düsseldorfer Parlament schon beinahe 19 Jahre dabei, eine politisch erfahrene Frau. Auch sie ließ sich, Habeck nicht unähnlich, von Twitter hinreißen – und teilte folgenden Tweet mit ihren Anhängern und dem Rest der Welt: „Nazis oder Kohle – Braun ist immer Scheiße!“


    Man muss sagen: Knapper geht es kaum. Es brauchte dann schon noch eine kratzige Intervention des FDP-Vormannes Christian Lindner und seines politischen Nicht-Freundes Michael Vassiliadis von der einflussreichen Bergbau-Gewerkschaft, bis Düker sich entschuldigte. Um dann allerdings nach dem Kohle-Kompromiss die wenig zimperlichen Aktivisten-Freunde im Hambacher Forst zu ermuntern, mit ihrem Aktivismus ruhig weiter zu machen.
    Denn in der Sprache der Grünen werden Menschen für schnöde Profite aus ihrer Heimat „vertrieben“ (Ist RWE wirklich so mächtig wie die sowjetische Armee und haben nicht auch Grüne die Braunkohleförderung mit genehmigt?). Die naheliegende Frage des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul, ob es den Aktivisten im längst zu 90 Prozent abgeholzten Forst denn um die Natur oder nur den Krawall gehe, beeindruckte Düker erwartungsgemäß wenig, ebenso wie der staatsmännische Hinweis des Ministerpräsidenten Armin Laschet, eines in der Seele Schwarz-Grünen, man könne rechtsfreie Räume nicht dulden. „Rufen NRW-Grüne zum Rechtsbruch auf?“, fragte besorgt die WAZ.
    Schon gar keine Chancen auf Gehör hatte der RWE-Vorstand Schmitz, der kühlgelassen Fakten aufrief: Man benötige die Erdmasse unter dem Hambacher Forst noch, nämlich, um die steile Abbruchkante am Tagebau aufzufüllen. Wollte man eine vergleichbare Erdmasse per Laster ankarren, bräuchte man 100 Millionen LKW-Ladungen – eine Reihe, „die 25 mal um die Erde reicht“. Ob das ein Beitrag zum Klimaschutz wäre?
    Sind die Grünen schon so weit, wie sie selbst denken?
    Wenn Unternehmen, denen der Gewinn stets das Wichtigste war, beginnen, plötzlich und demonstrativ auf Umweltschutz zu setzen, ihre Sprache verändern und auch ihre Botschaften, ist Skepsis angebracht. Handelt es sich nur um ein absatz- oder akzeptanzförderndes Etikett? Die schnelle PR-Branche hat für dieses Phänomen zeitgeistangepasster Unternehmenspropaganda eine Überschrift ersonnen: Greenwashing.
    Übertragen auf die Politik, hier auf die Grünen: Ist die angebliche Liberalisierung der Grünen vielleicht eine neue Form von Greenwashing – eine, in der die grüne Farbe zwar abgewaschen werden soll, sich allerdings als widerstandsfähiger entpuppt, als von der Putzkolonne gedacht?


    Die Welt, 02.02.2019