Die gesättigten Märkte Westeuropas machen den Autoherstellern zu
schaffen. Sie greifen zu Tricks, um die überproduzierte Ware
loszuwerden.
"Frühlingserwachen am deutschen Automarkt", "der Automarkt nimmt
Fahrt auf": Mit solchen Schlagzeilen versucht sich Deutschlands
Autobranche bei jeder nur möglichen Gelegenheit Mut zu machen. Denn
während die Märkte in Asien und Südamerika die Absatzzahlen auf
Rekordhöhe treiben und bis zum Ende des Jahrzehnts kräftige
Wachstumsraten versprechen, machen den Herstellern die gesättigten
Märkte Westeuropas zunehmend zu schaffen.
In Deutschland entwickelte sich das Neuwagengeschäft nach einem
verhaltenen Jahresauftakt erst im März stärker. Die Wachstumsrate betrug
im gesamten ersten Quartal gerade mal 1,3 Prozent. Dass es überhaupt
ein Wachstum gibt, verdankt die Branche vor allem dem Flottengeschäft,
aber auch ihren eigenen Tricks. Der Markt wird künstlich belebt mit
Rabattaktionen und "taktischen Zulassungen". Bei denen werden fabrikneue
Autos auf Hersteller oder Händler zugelassen und nach kurzer Zeit als
Tageszulassungen oder junge Gebrauchte mit Abschlägen von bis zu 20
Prozent in den Markt gebracht.
Mittlerweile werde jeder dritte Neuwagen in Deutschland auf einen
Hersteller oder Händler zugelassen, sagte kürzlich der Präsident des
Deutschen Kraftfahrzeuggewerbes, Robert Rademacher. Auch
Premiumhersteller und ihre Produkte stellten dabei keine Ausnahme dar.
Der Trend, immer mehr Neuwagen in den Markt zu pumpen, für die es im
Grunde keinen Bedarf und keine Käufer gibt, schädige auf längere Sicht
das Gebrauchtwagengeschäft, beklagte Rademacher.
Ungewohnt hohe Rabatte
Das Center Automotive Research (CAR) der Universität Duisburg-Essen
hat die Aktionen, mit denen die Branche hierzulande auf rückläufiges
Geschäft reagiert, detailliert untersucht. Demnach sanken die
Auftragseingänge im deutschen Automarkt in den ersten beiden Monaten
2012 gegenüber dem Vorjahr um neun Prozent. Im Februar wurde fast ein
Drittel aller Neuwagen auf Händler oder Hersteller zugelassen. Audi,
Ford und Opel trugen erheblich zum Anstieg der Eigenzulassungsquote bei –
Opel brachte im März sogar 44 Prozent seiner neu zugelassenen Fahrzeuge
als taktische Zulassungen auf die Straße.
Die CAR-Experten registrierten im März außerdem mehr als 400
Aktionen, mit denen die Hersteller ihre Autos mit aller Macht in den
Markt drücken wollten. Als Lockmittel fungieren Sondermodelle ebenso wie
besonders günstige Finanzierungsangebote. So bietet Ford
Sondermodell-Barrabatte zwischen 500 und 1.000 Euro für sofort
verfügbare Neufahrzeuge an. Auch Hyundai hat eine Reihe neuer
Sondermodelle im Programm, die Preisvorteile zwischen 13 und 20 Prozent
bescheren. Kia und Seat offerieren für bestimmte Modelle eine
Null-Prozent-Finanzierung über mehrere Jahre. Bei der Renault-Tochter
Dacia hat man kurzerhand die Listenpreise für einige der wichtigsten
Modelle gesenkt.
Bei den Internet-Vermittlern erreichte die Höhe der Rabatte für die
30 meistverkauften Neuwagen-Modelle mit durchschnittlich rund 18 Prozent
im Februar einen neuen Höchststand. Im Folgemonat gingen die
Preisnachlässe für einige Modelle leicht zurück, doch für den VW Golf
gewährten die Internet-Vermittler im März sogar durchschnittliche
Abschläge von knapp 21 Prozent. Rabatte werden dabei sogar für
Sondermodelle gewährt. Damit können Kunden mit Preisvorteilen von bis zu
30 Prozent für fabrikneue, individuell bestellte Exemplare des Golf
rechnen. Ein Grund: Der neue Golf VII geht im Herbst dieses Jahres an
den Start. Aber selbst in der Auslaufphase einer Modellgeneration seien
derart üppige Preisnachlässe überraschend, urteilen die Auto-Experten
von der Uni Duisburg-Essen.
Der Präsident des Kfz-Gewerbes kann eine derartige Absatzpolitik und
die daraus resultierende Preisschlacht nicht begreifen. Konzerne könnten
auch ohne ständig steigende Stückzahlen Profite machen, ist Rademacher
überzeugt. Den Kunden sei es letztlich egal, ob ein Hersteller im
Absatzranking auf den vorderen Plätzen rangiert. "Qualität ist das, was
zählt", sagt Rademacher.
Auf mehr Verständnis stoßen die Manöver bei Wissenschaftlern. "In
Europa haben wir derzeit Überkapazitäten von mindestens 25 Prozent",
erläutert Professor Stefan Bratzel, der das Center of Automotive an der
Fachhochschule für Wirtschaft in Bergisch Gladbach leitet. Betroffen
sind insbesondere Volumenhersteller im Kleinwagensegment, da die Märkte
in Frankreich, Italien und Spanien in der Krise stecken. Überkapazitäten
seien wegen der hohen Fixkosten in der Produktion ein großes Problem
für die Industrie, so Bratzel. Die überproduzierten Autos mithilfe
unterschiedlicher Aktionen auf den Markt zu bringen, verbessere die
Auslastung der Werke – dabei nähmen Hersteller in Kauf, dass der Gewinn
pro Fahrzeug sinkt.
Auf der anderen Seite drehen die Automobilhersteller, die es sich
leisten können, immer weiter an der Rabattspirale, um sich Märkte
beziehungsweise Marktanteile zu "kaufen", sagt Bratzel. Das Kalkül: Wer
nicht mithalten kann, wird verdrängt. Nach Einschätzung des
Automotive-Experten ist das Streben nach immer höheren Absatzzahlen
allerdings nicht nur eine Prestigefrage, sondern alternativlos: "Größe
ist wichtig, um die Entwicklungskosten auf möglichst viele Fahrzeuge zu
verteilen." Immer höhere Stückzahlen allein seien jedoch auch noch kein
Garant für einen profitablen Wachstumskurs, sagt der
Wirtschaftswissenschaftler. Ein schlichtes "survival of the fattest" werde es nicht geben.
zeit.de